ligne claire

Unter dem Titel «ligne claire» sind ab August Skulpturen mit einer besonderen Formensprache in der INUIT Galerie am Central versammelt. Es sind Werke, die durch klare Linien, elegante Konturen und raffinierte Vereinfachung auffallen und über einen Zeitraum vom eineinhalb Jahren für diese Ausstellung zusammen getragen wurden. 

 

Der Begriff «Ligne claire» bezeichnet eine Stilrichtung der westlichen Comic-Kunst und wurde in den 70er Jahren für den grafischen Zeichenstil Hergés eingeführt. Klar umrissene Figuren, die sich durch gezeichnete Umrisslinien voneinander abheben kennzeichnen diesen Stil. Es sind Charakterzüge, die sich auch in Skulpturen der neuen Kollektion wieder finden. Einige Arbeiten könnten es sogar tatsächlich mit gezeichneten Karikaturen aufnehmen, doch allen ist vor allem ihre klare Form und ihre elegante Kontur gemeinsam.  Einige Stücke der neuen Sammlung wirken, als wären sie mit einem Strich gezeichnet oder durch Abstraktionsstudien in die vereinfachte Form gebarcht. Sie sind im wahrsten Sinne aufs Maximum reduziert. Die starke Tendenz zur Abstraktion, welche in diesen Arbeiten zu Tage tritt erstaunt, da Inuit nicht wie im Westen üblich, durch kunstgewerbliche Schulung ihre schlichte Formensprache fanden, sondern viel eher durch Intuition und künstlerisches Selbstvertrauen. Das gilt besonders für jene Bildhauer, die an der Westküste der Hudson-Bay leben. Es ist jene Region, die vor allem von den sogenannten Karibu-Inuit bewohnt wird, die spät, erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit der ‚weissen Kultur’ in Berührung kam. Im Kontrast zur den manieriert wirkenden Skulpturen von Baffin Island (in der Ausstellung als Gegenpol vertreten durch zwei Wölfe von Etulu Etidlui), den detaillierten Naturdarstellungen des nördlichen Quebec oder den fantastischen Skulpturen der Netsilik-Region, legen die Skulpturen der Karibu-Inuit Wert auf Form und Linie und wirken nahezu minimalistisch. Gerade diese Eigenschaft lässt sie als Kunstwerke erscheinen, die in der Tradition der europäischen Moderne stehen. Doch gerade dies ist nicht der Fall. Die Eigenart dieser Skulpturen entsteht aus den Naturgegebenheiten und nicht aus einem Ringen um einen Stil. Viele Inuitbildhauer betrachten die Natur als Inspirationsquelle und nutzten die vielfältigen Erscheinungsformen ihres Lebensraumes für ihren kreativen Prozess. Hinzu kommt, dass der grosse Respekt, der den Erscheinungen der Umgebung entgegengebracht wird auch der eigenen schöpferischen Bildsprache gilt. Auch sie ist Teil der unendlichen Vielgestaltigkeit der Natur.  Das künstliche, weil vom «Gelebten» abgekoppelte Konzept «Kunst», für das es in der Sprache der Inuit nicht einmal ein Wort gibt, ist in der Arktis unbedeutend. Eine Skulptur der Inuit ist daher viel eher als eine Deutung oder Illustration des Lebens in und mit der Natur in der Weite der Arktis zu verstehen.

 

©2016, JB, Inuit Galerie am Central

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