Wandlung und Verwandlung

Die Mythologie der Inuit erzählt wie Raum und Zeit entstanden und die Ordnung der Welt daraus hervor ging. Diese Ordnung ist nicht unendlich, sondern sie hat einen Anfang und ein Ende. Von Beginn an ist diese Welt von Menschen, Tieren und anderen Wesen bevölkert. Ihre Grenzen jedoch sind durchlässig und in jedem Moment fliessend. Steine, Tiere, Menschen und Geister bilden ein dynamisches Geflecht in der Weltordnung der Arktis, die vom Atem Silas belebt wird. Im traditionellen Verständnis der Inuit sind Menschen deshalb in der Lage, die Gestalt von Tieren anzunehmen.
Tiere konnten in mythischer  Vergangenheit die menschliche Sprache sprechen und die Gestalt beliebiger anderer Tiere annehmen. Geister können sich bis heute in der Menschenwelt bewegen, hilfreich oder gefährlich sein. Knud Rasmussen beschrieb diese Welt 1931 mit folgenden Worten: «Am Anfang der Zeit lebten Menschen und Tiere auf der Erde, doch es gab keinen Unterschied zwischen ihnen. Sie mischten sich: Ein Mensch konnte zum Tier werden, ein Tier zum Menschen. Es gab Wölfe, Bären, Füchse. Doch sobald sie zu Menschen wurden, gab es keine Unterschiede mehr zwischen ihnen. Sie hatten unterschiedliche Gewohnheiten, doch alle sprachen dieselbe Sprache, lebten in ähnlichen Häusern und redeten und jagten auf gleiche Weise.»

Das Werk des anonymen Bildhauers in diesem Showcase vermittelt dem Betrachter, der die Skulptur in den Händen hält, den transformierenden Akt auf physische Art und Weise: Betrachtet man die Skulptur frontal, fällt das Menschengesicht auf. Sobald sie zur Seite gedreht und flach gehalten wird, erscheint der Rabe mit seinem mächtigen Schnabel. Die Skulptur transformiert und verliert mit der Bewegung ihre statische Präsenz. Sie wird zum Vogel.

Verwandlungsprozesse standen in früherer Zeit unter der Kontrolle der Schamanen. Doch ein Individuum konnte mehr oder weniger gut für schamanistische Aufgaben begabt sein. Schamanistische Kräfte wurden als eine universelle Fähigkeit betrachtet. Amulette aus Bestandteilen von Tieren boten die Möglichkeit, die transformativen Kräfte zu übertragen und zu wecken. Die Macht des Schamanen bestand darin, mit den nichtmenschlichen Kreaturen in einen Dialog zu treten und ihren Blickwinkel einzunehmen. Die Welt der Inuit war und ist durchlässig und vielgestaltig. Der Schamane wirkt als Vermittler zwischen diesen Zustandsformen. So schildert George Kappianaq den Blick des Schamanen so: «Wenn der Tuurngaaq von einem Schamanen Besitz ergreift und in ihm ist, kann dieser sehen, was ausserhalb des Bereiches dessen liegt, in dem er sich befindet. Er kann andere sehen, die davon nichts merken. Er hat die Macht das zu tun, wenn er andere prüfen will. Er weiss, was ihnen zustossen wird, ohne dass sie merken, dass sie beobachtet werden. Sobald der Geist den Schamanen verlässt wird er wieder zu einer normalen Person, wie jede um ihn herum und er sieht nur noch das Sichtbare.»

Die Transformation wird von der Nachahmung der Geräusche des Hilfsgeistes begleitet. Wurden Vögel als Hilfsgeister angerufen, so hallte der Klang des Tieres unverwechselbar aus dem Schamanen heraus, der sich vollständig mit dem Tier identifiziert hatte. Im Moment der schamanistischen Trance, welcher traditionellerweise ein Trommeltanz voraus ging, entliess der Schamane seinen Hilfsgeist und nahm dessen körperliche Form, die Tiergestalt, an. In diesem Moment bewegte sich der Mensch wie der tiergestaltige Geist und hatte auch dessen Fähigkeiten. Die Skulptur von Ootoovak Tigullaraq zeigt den liegenden Schamanen, dessen Hände bereits die Form von Vogelschwingen angenommen hat, während sich der Tuungaaq auf der Rückseite der Skulptur befindet. Er kann fliegen, tauchen, beissen oder er ist im Besitz seiner unbändigen Kräfte. Magische Gesänge, die während des Trommeltanzes gesungen werden, können Inuit unsichtbar machen, so dass sie der Gefahr, die von böswilligen Geistern ausgeht, entkommen können.
 
All diese Phänomene nahmen und nehmen Inuit bis heute im Verborgenen wahr. Erst durch ihre Kunstwerke werden die mysteriösen Erscheinungen für Uneingeweihte sichtbar. Trommelnde Schamanen künden den Beginn eines Rituales an, in welchem die Grenzen zur unsichtbaren Welt durchstossen werden. Transformations-Darstellungen zeigen den transitorischen Moment. Die Situation des Übergangs vom einen in die andere Existenz ist jener Moment, der oft  künstlerisch festgehalten wird. Selten zeigen die Werke auch den Flug des Schamanen in die übernatürliche Welt, wo er als Mittler zwischen Menschen und Geistern in die Jenseitswelt eintritt, um die Kräfte jener Wesen zu bändigen und sie zu befrieden. 
In einer lebensbedrohlichen Wildnis sind Geister zahlreich. Hilfsgeistern, tuurngait, oder Schatten, tarniit, begegnen Inuit meist ausserhalb der Gemeinden. Mariano Aupilaarjuk erzählt, «sie sind nicht unheimlich oder gefährlich. Manchmal kann man ihre Fusstritte hören.» In der Vergangenheit wurde angenommen, nur Schamanen seien in der Lage diese Geistwesen zu sehen. Doch heute sind noch Inuit-Älteste zu finden, die von Begegnungen mit ihnen berichten. Sie leben in Steinen, so erzählt es die Tradition der Inuit, deren Höhlung den Geistern als Behausung dienen. Ihr Eingang kann nur von Schamanen gesehen werden, die den Geist als ihren Schutzgeist bestimmt haben.
 
Inugarulligait sind handgrosse, menschengestaltige Zwerge. Eva Mukyugniq erzählte, dass sie Menschen vergesslichen machen können und platte, kleine Fussabdrücke hinterlassen würden. Wenn sich Karibus ungewöhnlich verhalten wird vermutet, dass ijirait im Spiel sind. Ijirait sind auf dem Lande zuhause, wo sie in Steinhäusern leben. Ihre Gesichter sind entstellt doch für Menschen sind sie unsichtbar. Nur Schamanen können sie wahrnehmen. Sie gelten als ausserordentlich machtvolle Geister. Wenn sie auftauchen darf man sich nicht erschreckt zeigen, denn sie attackieren nur die Ängstlichen und Feigen. Das Geräusch eines menschlichen Pfeiffens kündet an, dass ijirait anwesend sind. Sie sind menschenartig und können auch die Gestalt von Karibus annehmen.
Besonders in der Zentralarktis, wo 6 Monate des Jahres Dunkelheit herrscht, haben Künstler ihren Geistern ein fantastisches Aussehen verliehen. Erst in den 70er Jahren tauchten erste Skulpturen aus der Gemeinde Gjoa Haven auf. Erstaunt nahm man zur Kenntnis, dass die Bildhauer dieses Gebietes ein besonderes Interesse für Geisterdarstellungen hatten und diese meist furchteinflössend und machtvoll vorstellten. Das ist bis heute so geblieben, wie die Skulptur von Samuel Nahaulaituq zeigt.
 
Sie sind eingeladen, sich in die geheimnisvolle Welt des Unsichtbaren zu begeben, das allein in der Kunst Gestalt annimmt und sichtbar wird!
 
©JB, Inuitgalerie, Zürich
Quellen: Sean P.A. Desjardins, A change of subject: Perspectivism and Multinaturalism in Inuit Depiction of Interspecies Transformation in: Etudes Inuit Vol 41, Nummer 1-2, 2017

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