Alltag in der Arktis

Wer an einem schönen Sonntag in einer arktischen Siedlung unterwegs ist wird kaum jemanden antreffen. Viele Menschen befinden sich dann auf dem gefrorenen Eis, starren gebeugt auf einen kleinen Punkt auf der weissen Schneedecke: das Eislochfischen gehört zu den beliebten aber auch wirtschaftlich notwendigen Tätigkeiten in der Arktis, der auch die Frauen gerne nachgehen. Die erste Arbeit von Annie Angotialik aus Rankin Inlet illustriert diese meditative und sehr stille Tätigkeit auf eindrückliche Weise. Eine ältere, anonyme Arbeit von 1978 enthüllt ihren geistigen Aspekt in unerwarteter Art. Während die eine Seite der Skulptur eine menschliche Figur zeigt, die dabei ist mit abgewandtem Gesicht einen Fisch aus dem Eisloch zu ziehen, schildert die rückwärtige Seite der Skulptur den Wunschgedanken des Fischers. Um den Kragen gewickelt erscheint ein Fisch, der mit dem Gewand des Inuk und schliesslich mit der Gestalt selbst verschmilzt. 

Die grosse Skulptur eines Robbenjägers von Tivi Ilisituk (1933-2012) betont die körperliche Kraft, welche die Jagd den Inuit abverlangt. Sie enhüllt aber noch mehr: In der traditionellen Vorstellungswelt der Inuit ist die Jagd mit der Einhaltung von Geboten verbunden. In dieser animistischen Glaubensvorstellung lebt die inua nach dem Tod eines erbeuteten Tieres weiter und verlässt den Körper. Riten befrieden dieses entlassene Geistwesen. Der Jäger seinerseits tötet nur mit der Erlaubnis der inua des Tieres, das sich ihm damit opfert. Insofern ist die Darstellung des Jägers mit seiner Beute, die Wiedergabe des Todes also, auch immer als eine Verkörperung der freigegebenen Geistwesens und der spirituellen Verbundenheit des Jägers mit der Natur zu begreifen.

Frühe Arbeiten aus dem nördlichen Quebec schildern nicht nur Jäger, sondern oft auch Frauen bei Handarbeit und Kinderbetreuung. Die Arbeit aus dem Jahre 1973 stammt von einer unbekannten Hand aus dem nördlichen Quebec. Mit einer grossen Liebe zum Detail zeigt (der oder) die Künstlerin das schlichte Motiv einer sitzenden Frau beim Hantieren mit einem Werkstoff. Von der Tätigkeit der Frauen – sei es das Zubereiten der Nahrung oder das Nähen der wasserdichten Kamiks – war das Überleben der Angehörigen abhängig. Die grosse Bedeutung, die der alltäglichen Aufgabe – ja einem einzelnen genähten Stich in einem wasserdichten Kamik -  damit zuteil wird, war den Inuit Grund genug, sie in ebenso sorgfältigen und aufwändigen Kunstwerken darzustellen. Dies gilt auch für das wichtigste Werkzeug der Inuit-Frauen: den Ulu. Nicht selten ist der Griff mit grosser Sorgfalt gestaltet. Wer glaubt, unser Exemplar mit einem Griff in Form einer Robbe müsse unhandlich sein soll sich beim Besuch in der Galerie vom Gegenteil überzeugen. Die Handlichkeit des kunstvollen Ulu verblüfft!

Johnny Inukpuk (1911-2007) gilt als einer der ersten Bildhauer, die einen eigenwilligen und wieder erkennbaren Stil prägten. Als Stammesältester wurde er in Inukjuak geehrt und für seine künstlerische Arbeit sehr geachtet. Unsere grossformatige Skulptur zeigt eine Mutter, die ihr Kind in der Kapuze des Amautik mit sich trägt. Die befremdende Darstellung zeigt sie beim Vorbereiten von Karibuleder, das nur verarbeitet werden kann, wenn es mit den Zähnen weich gekaut wird. Bis heute kann man den Inuitfrauen dabei zusehen, wie sie die wunderschönen Kamiks herstellen, indem sie geraume Zeit damit zubringen, das Leder zu kauen. Dass dies traditionellerweise nur jenen Frauen möglich war, die noch alle Zähne besassen, erklärt sich von selbst und macht deutlich, weshalb der Bildhauer die Zahnreihe derart prominent zur Geltung brachte. 

Viele Inuitskulpturen beziehen sich auf eine längst vergangene Zeit. Insbesondere die Darstellung von Jägern mit Harpune und Speer entspringen einem rückwärtsgewandten, romantisierten Bild, das junge Inuit heute nicht mehr kennen. Daher finden sich unter den Arbeiten jüngerer Künstler auch Bildhauerarbeiten, welche die Jagd mit Skidoo und Gewehr zeigen, wie es in Moses Pootoogooks Miniatur, die kaum zwei Zentimeter gross ist, zu sehen ist.

Seit den 50er Jahren gehört das Herstellen von Skulpturen zu einer ausserordentlich wichtigen und wirtschaftlich notwendigen Arbeit in vielen arktischen Gemeinden. Es erstaunt daher, dass Inuit nur sehr selten auf dieses Handwerk Bezug nehmen, wenn sie Skulpturen herstellen. Eine Miniatur von Silas Kayakjuak (*1957) zeigt einen Bildhauer, wohl ein Selbstbildnis. In seiner kleinen Arbeit wird deutlich, dass jüngere Inuit die Herstellung von Skulpturen als eine neue alltägliche Tätigkeit in ihrem von Wandel geprägten arktischen Lebensumfeld sehen. 

©JB, INUIT Galerie am Central, Zürich

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